Du bist also der Meinung, dass die Menschen vor einigen Jahrhunderten generell zu doof waren zu erkennen, dass zwischen Krankheiten Ursache und Wirkung besteht?
Das bezweifle ich entschieden.
Man braucht nur eine gute Beobachtung, warum die Menschen krank werden, wie schon von Hildegard von Bingen
Na, dann mal zum Mitschreiben, es hat nämlich nichts mit "doof" zu tun, wie Du schreibst:
Im antiken Griechenland, also dem Vorläufer der westlichen Medizin, wurde jede Veränderung des Körpers oder der menschlichen Psyche absolut negativ wahrgenommen. Krankheiten wurden als Verunreinigungen bezeichnet, auf griechisch "Miasma", wobei Miasma im Griechischen soviel bedeutet wie "Fleck", "Befleckung" oder auch "Schuldfleck". Man glaubte, dass die kranke Person unrein war, dass sie die Götter verärgert hatte und von einem Dämon besessen war. Diese Person durfte dann keinen Kontakt zu anderen Menschen haben, weil man glaubte, dass der Kontakt zu einer unreinen Person auch gesunde Menschen verunreinigen und die Strafe der Götter auch sie treffen könne. Dieser antike griechische Aberglaube bildete später dann die moderne Vorstellung von Ansteckung.
Es ist dabei wichtig zu wissen, dass es in den ältesten Formen der Medizin, wie der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) oder dem Ayurveda kein Konzept der Krankheitsübertragung gibt. Man brachte die Krankheit grundsätzlich mit Bestrafung in Verbindung. Damals war es auch ein westlicher Aberglaube, der unter anderem dazu diente, Angst zu erzeugen. Nicht nur, um materiellen Gewinn zu erzielen, sondern auch um politische Ziele zu erreichen. Dieser Aberglaube ermöglichte es, unerwünschte Personen als krank, gefährlich, unheilbar und ansteckend abzustempeln, um sie anschließend in Quarantäne oder, besser noch, in einer Pestbaracke verschwinden zu lassen.
Im späteren Mittelalter war dies nicht anders. Damals herrschte in der Gesellschaft, genau wie im antiken Griechenland, die religiös motivierte Vorstellung, dass Krankheit eine Strafe für Sünde sei. Den damals populären Begriff dafür kennen wir als Lepra. Aber - die Symptome dessen, was man damals als Lepra bezeichnete, änderte sich ständig sogar soweit, dass eine Person ohne irgendwelche Anzeichen einer Krankheit dennoch als Leprakranker bezeichnet werden konnte. Die Einstellung gegenüber den Leprakranken blieb aber dennoch immer gleich - er galt als unrein, gefährlich und wurde deshalb von der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie wurden tätowiert, mussten eine besondere Kleidung und eine Glocke tragen. Leprakranke durften keine sozialen Kontakte mehr haben und mussten ihre Familien verlassen, sie galten gesellschaftlich als tot, für sie wurden sogar Totenmessen abgehalten. Daher bedeutet das deutsche Wort für Lepra auch "Aussatz", was "Verbannung" bedeutet. Leprakranke wurden ausgesetzt.
Aber wie wurde Lepra nun diagnostiziert? Zu diesem Zweck nutzte man medizinische Tribunale, die im gesamten Europa damals üblich waren. Sie werden in Büchern mit Stadtchroniken aus dem 11. Jahrhundert beschrieben. Auf diesen Tribunalen entschieden Priester und Stadträte ob eine Person leprakrank war und ausgewiesen oder in einer Leprakolonie untergebracht werden musste. Nur - Lepra war zum damaligen Zeitpunkt keine eigenständige oder einzigartige Krankheit, "Lepra" bezeichnete damals fast jede Krankheit, egal ob Atemwegserkrankung oder Hautkrankheit. So konnte damals fast jede Person zu einem Leprakranken abgestempelt werden.
Und so weiter und so fort. Man könnte jetzt einen ganzen Roman darüber schreiben. Die Menschen waren damals nicht doof, sie waren gefangen in ihrem jahrhundertealten Aberglauben und in ihrer Angst vor einer Strafe Gottes.
Und Hildegard von Bingen?
„Ich glaube, dass die Prophetie der Hildegard unmittelbar aus der List des Teufels entspringt. Er will die Menschen mit ihrer Hilfe mit vielen Falschheiten und Nichtigkeiten verwirren. Gerade durch jene Hildegard lehrt er viele Irrtümer und durch sie gibt er Anweisungen an ihre ketzerischen Anhänger.“
So Johannes Peckham, der Provinzialmeister der englischen Franziskaner und der spätere Erzbischof von Canterbury. Er war regelrecht entsetzt als er 1270 erstmals die Schriften einer Frau zu lesen bekam, die als Lehrerin und Seherin in religiösen Fragen bekannt geworden war. Für Peckham war hier die Grenze des Erlaubten überschritten:
„Deshalb tadele ich all diejenigen, die die Lehre einer Frau in der Kirche verbreiten. Alle Zeichen, die sie verkündigen, sind betrügerisch und falsch.“
Visionen, wie Hildegard sie hatte, standen im Mittelalter unter dem Verdacht, dass es sich um Betrug handeln könnte oder sogar Ketzerei.
Das alles hat nichts mit Doofheit zu tun, die Menschen waren gefangen in ihren Narrativen. Bis zur Renaissance und ihrer Blütezeit mit ersten Entdeckungen mussten noch einige Jahrhunderte vergehen.
Sind wir heute besser dran? Mit unserer Verbortheit beispielsweise beim Thema Krebs? Mit unserem Abergaluben an Stahl, Strahl und Chemo?
Von daher - es gab zum damaligen Zeitpunkt keine bewusste Infizierung, Wenn man mal absieht von den Ereignissen 1376 in der Hafenstadt Kaffa auf der Halbinsel Krim. Dort belagerte der Tartarenführer Khan die Stadt Djam Bek, das heutige Feodosia. Um die Stadt einzunehmen, benutzte er einen Trick. Er ließ die Pestleichen seiner eigenen Männer mit Katapulten über die Stadtmauern schleudern. Viele starben in der Stadt an der Pest, der Rest ergriff die Flucht. Dies hatte allerdings weniger mit einer Infizierung der Stadtbewohner zu tun, Khan wollte, dass die Bewohner die Flucht ergriffen aus Angst vor der Pest, damit dann die Stadt in seine Hände fiel.