Ein NETZFUND, Autor unbekannt----
Mein Vater hat 40 Jahre lang im alten Werk Dieselmotoren gebaut. Heute sitzt er im Sessel, starrt auf die Fernbedienung und sucht minutenlang nach dem Knopf für den Ton.
Meine Mutter, die früher an Weihnachten dreißig Gäste bewirtete, ist nach einem Topf Kaffee erschöpft.
Und ich – ich bin der Dieb, der ihnen Zeit gestohlen hat.
Nicht absichtlich, aber systematisch. Ich wohne 570 Kilometer entfernt, in einer Stadt, in der „beschäftigt sein“ als Auszeichnung gilt, mit einem Hauskredit, zwei Kindern im Dauereinsatz und einem Laptop, das selbst nachts noch blinkt.
Ich bin ein „guter Sohn“. Ich rufe jeden Sonntag an, schicke Geschenke, buche Flüge, plane Besuche. Aber in Wahrheit gebe ich ihnen nur Reste – gestohlene Minuten im Auto, halbe Gespräche zwischen Terminen, Nachrichten, die mit „Bin gleich im Meeting“ enden.
Letzten Monat musste ich beruflich nach Nordrhein-Westfalen. Ein Termin fiel aus, plötzlich hatte ich 24 Stunden frei, also fuhr ich in mein Heimatdorf – die Straße mit den alten Eichen, die schon da waren, bevor ich laufen konnte.
Als ich um die Ecke bog, sah ich es. Drei Uhr nachmittags, blauer Himmel, Sonne über den Dächern und das Licht auf ihrer Veranda brannte.
Diese alte Messinglampe, die leise summt und von toten Mücken übersät ist. Früher neckte ich sie: „Papa, das kostet Strom!“ Er brummte nur, und Mama lächelte: „Ach, lass es doch.“
Diesmal blieb ich im Auto sitzen und sah auf das Licht – ein kleines, goldenes Glimmen gegen die Sonne, trotzig, sinnlos, wunderschön. Ich spürte, wie mir etwas in der Brust brannte, das ich lange verdrängt hatte.
Ich bin 52. Mein Vater ist 89. Meine Mutter 87. Ihr Leben ist geschrumpft, still geworden, ohne Reisen, ohne Freunde, ohne das laute Durcheinander früherer Jahre.
Die Werkhalle, in der Papa gearbeitet hat, ist abgerissen. An ihrer Stelle steht jetzt ein Fitnessstudio. Das Dorf, in dem ich groß wurde, ist dasselbe und doch völlig anders.
Als ich ausstieg und klingelte, dauerte es lange, bis jemand öffnete. Mama stand in der Tür, hielt meinen Arm, als hätte sie Angst, ich sei nur ein Traum. Papa erhob sich langsam aus dem Sessel, seine Augen glänzten: „Na, wer sagt’s denn.“
Später, während Mama mir ein Brot machte, das ich gar nicht brauchte, fragte ich: „Warum brennt das Licht draußen mitten am Tag?“ Sie hielt kurz inne, sah hinaus und sagte leise: „Weil vielleicht jemand nach Hause kommt.“
Dieser Satz traf mich wie ein Schlag. Sie meinte nicht nur mich, sondern meine Schwester in München, die Enkel, die nie Zeit haben, den Nachbarn, der schon lange fort ist. Dieses Licht war kein Stromverbrauch – es war Hoffnung.
Ich blieb über Nacht und beobachtete sie, wie sie beide jedes Mal aufblickten, wenn draußen ein Auto langsamer wurde. Wie Papa, der früher fünfzig Männer leitete, jetzt sein Smartphone hielt, als wäre es ein Rätsel, und auf ein Foto wartete.
Mama, einst die klügste Karten-Spielerin im Ort, hat eine Liste am Kühlschrank – Arzttermine, Telefonnummern, kleine Erinnerungen, damit nichts verloren geht. Sie sind nicht mehr die Menschen, die mich großgezogen haben, sie sind die Echos ihrer selbst.
Und das Schlimmste ist: Sie verlangen nichts. Sie bitten nicht, sie warten einfach – still, geduldig, liebevoll.
Sie wollen kein Geld, keine Reisen, keine Hilfe, die ihr Leben „moderner“ macht. Sie wollen uns – unsere Stimme, unsere Nähe, unsere Zeit. Einen Tag, ein Gespräch, ein Blick, der sagt: Ich bin hier.
Sie wollen hören, wie der Schlüssel sich im Schloss dreht. Sie wollen das Gefühl, dass jemand kommt. Sie wollen einfach gemeinsam sitzen, schweigend, zufrieden, ohne Uhr, ohne Eile.
Eltern hören nie auf, Eltern zu sein. Auch wenn ihr Körper schwächer wird, ihr Gedächtnis bröckelt und ihr Tag sich auf Wohnzimmer und Küche beschränkt – ihre Aufgabe bleibt: zu warten. Das Licht brennt, weil sie hoffen.
Unsere Aufgabe ist, es zu sehen. Zu verstehen, was dieses kleine, unscheinbare Glühen bedeutet. Dass Liebe manchmal einfach nur heißt, da zu sein.
Wenn du das liest und du hast sie noch, deine Eltern – fahr hin. Nicht an Weihnachten, nicht zum Geburtstag, nicht „wenn du Zeit hast“. Fahr einfach an einem Dienstag.
Setz dich auf das alte Sofa, iss die harten Kekse, hör dir die Geschichte an, die du schon hundertmal gehört hast. Schau auf ihre Hände – voller Linien, voller Arbeit, voller Leben und spür, dass du alles bist, worauf sie noch warten.
Denn eines Tages wirst du die Straße entlangfahren, und das Haus wird dunkel sein. Das Licht wird aus. Und du wirst begreifen, dass du kein Sohn oder keine Tochter mehr bist.
Du wirst ein Waisenkind sein. Und du würdest alles geben – alles, um unter diesem Licht zu sitzen und zu sagen: „Ich bin daheim.“ Geh. Jetzt. Das Licht brennt noch.![]()