Von Gut und Böse
Gedicht von Khalil Gibran
Und einer der Ältesten der Stadt sagte: Sprich uns vom Guten und Bösen.
Und er sprach:
Vom Guten in euch kann ich sprechen, nicht aber vom Bösen.
Denn was ist das Böse anderes als das vom eigenen Hunger und Durst gequälte Gute?
Wahrlich, wenn das Gute hungert, sucht es Nahrung selbst in dunklen Höhlen.
Und hat es Durst, trinkt es sogar aus stehenden Gewässern.
Ihr seid gut, wenn ihr eins mit euch seid.
Doch seid ihr dies nicht, seid ihr darum nicht böse.
Denn ein Haus mit mehreren Räumen muss kein Versteck für Diebe sein;
es hat lediglich mehrere Räume.
Und ein Schiff ohne Ruder mag ziellos zwischen gefährlichen Inseln treiben
aber nicht untergehen.
Ihr seid gut, wenn ihr danach strebt, von euch selbst abzugeben.
Doch ihr seid nicht böse, wenn ihr danach trachtet, etwas für euch selbst zu gewinnen.
Denn wenn ihr dies tut, seid ihr wie eine Wurzel,
die sich an die Erde klammert und an ihrer Brust saugt.
Die Frucht kann gewiss nicht zur Wurzel sagen:
„Sei wie ich, reif und voll und gib immer von deiner Fülle.“
Denn für die Frucht ist Geben ein Bedürfnis, so wie Empfangen ein Bedürfnis für die Wurzel ist.
Ihr seid gut, wenn ihr klar denkend und hellwach eure Worte wählt.
Doch ihr seid nicht böse, wenn ihr schlaft, und eure Zunge unbedacht und ziellos stammelt.
Selbst holpriges Reden kann eine schwache Zunge stärken.
Ihr seid gut, wenn ihr entschieden und kühnen Schrittes auf euer Ziel zugeht,
doch ihr seid nicht böse, wenn ihr dies hinkend tut.
Selbst die Hinkenden gehen vorwärts.
Aber ihr, die Starken und Flinken, seht zu, dass ihr nicht vor den Lahmen hinkt
und dies für Freundlichkeit haltet.
Ihr seid auf zahllose Weisen gut, und ihr seid nicht böse, wenn ihr nicht gut seid.
Ihr seid nur träge und faul.
Schade, dass Hirsche den Schildkröten nicht Schnelligkeit beibringen können.
In eurer Sehnsucht nach einem gewaltigen Ich liegt euer Gutsein:
und diese Sehnsucht ist in euch allen.
Aber in manchen von euch ist diese Sehnsucht ein reißender Strom,
der mit Macht zum Meer rauscht
und die Geheimnisse der Hügel und die Lieder des Waldes mit sich führt.
Und in anderen ist sie ein seichtes Gewässer,
das sich in Windungen und Biegungen verliert
und immer wieder innehält, ehe es das Meer erreicht.
Aber wer viel begehrt, sage nicht zu dem, der wenig ersehnt:
"Warum bist du so langsam und zögerlich?“
Denn der wahrhaft Gute fragt nicht den Nackten: "Wo ist dein Gewand?"
noch den Obdachlosen: "Was ist mit deinem Haus geschehen?“